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Der Sonnenwolf

Der Sonnenwolf - Ausgabe 26

Published over 2 years ago • 6 min read

Zitat
Der Massennihilismus der modernen Freizeitgesellschaft ist das ungeliebte Kind der Verbindung von Hedonismus und Aufklärung,
der unsere Gesellschaft ihr freudloses Dauergrinsen verdankt.

– Anselm Vogt

Hat Hieronymus Bosch diese gestörte Gesellschaft unter dem Titel Der Garten der Lüste bereits Jahrhunderte im Voraus gemalt?

Wie es besser gehen kann, schreiben Johanna und Marcel:

Die Intellektuellen, das Mittelalter und die Aufklärung
von Johanna Blum

Immer häufiger begegnet einem in letzter Zeit die Frage, warum sich nicht mehr Intellektuelle zu Wort melden, um ausgefeilte Theorien zur derzeit misslichen Lage der Nation zu liefern. Eine interessante Frage, deren Beantwortung nicht lange auf sich warten lässt: Es heißt, sie machten sich rar, sei man doch an einem Punkt angekommen, an dem Menschen sich nicht mehr die Zeit nähmen, längere Texte zu lesen, geschweige denn, komplizierte Theorien zu erarbeiten, bereits ausformulierte Gedanken nachzuvollziehen und deren Haltbarkeit zu prüfen. Man bevorzuge es in der modernen Zeit eher, sich mit Nachrichten auf einem mobilen Gerät zu versorgen, diese mit entsprechenden Kommentaren zu versehen. Die Devise lautete ganz klar: Schnell konsumieren, schnell vergessen. Kurz, es fehle den Menschen (Sendern und Empfängern gleichermaßen) an Ausdauer, und ja, nicht selten auch an Kompetenz. Das große Zeitalter der Aufklärung, welches uns beglückt hat mit wunderbaren Schriften und Systemen, läge unwiederbringlich hinter uns. Da greife man lieber zum journalistischen denn zum philosophischen Griffel. Soweit die Rechtfertigung jener, die sich nicht mehr die Mühe machen, tiefgründige und gut durchdachte Texte zu verfassen, fänden diese doch sowieso kein Gehör mehr.

Ich halte inne und denke darüber nach. Unrichtig ist das nicht. Aber ich glaube, die Befürworter dieser Aussage machen es sich zu leicht, wenn sie bis hierhin und nicht weiter denken. Denn, unterstellen wir einmal, es sei tatsächlich so, dann wohnt dem Ende der Aufklärung im klassischen Sinne auch die Chance eines Neubeginns inne (ganz abgesehen davon, dass ich vermute, dass die großen Philosphien des 18. und 19. Jahrhunderts auch während deren Entstehungszeit nicht allzuviele Menschen interessiert haben, und, ehrlicherweise, die Zahl derjenigen, die uns mit ihren wunderbaren Gedanken beglückt haben, im Vergleich zur Masse schon immer gering war). Warum? Ich wage ein Gedankenexperiment. Erlauben Sie mir, etwas auszuholen:

Schreiten wir weiter zurück in der und in die Vergangenheit. Das Mittelalter gilt vielen als dunkel. Gottesfürchtig nahmen die Menschen einiges an Leid auf sich, erduldeten, ohne zu klagen. Die Obrigkeit bediente sich Gottes, um manche Ungerechtigkeit zu legitimieren. Einerseits. Andererseits war das Mittelater auch sehr mystisch. Man staunte noch fleißig, forschte, las wirklich durchdachte Bücher (ja, die gab es schon zu jener Zeit in Hülle und Fülle), und einen Bachelor-Abschluss kannte man nicht. Wollte man den Weg des Studiums einschlagen, bedeutete dies ein viele Jahre andauerndes sich Aneignen von Wissen, bevor man sich “spezialisieren” konnte. Man wagte viel. Nicht selten galt: Probieren geht über Studieren. Und das hieß damals, man hatte sich ein breites Wissen angeeignet, wurde dann auf wundersame Weise des Nächtens bei Kerzenschein von einer glänzenden Idee heimgesucht und wusste intuitiv, dass die Zeit des Handelns gekommen war. Denken wir nur an die wunderbaren gotischen Kathedralen: Architekten, bewaffnet mit Zirkeln, ein paar Holzbrettern und selbst gefertigtem Seil und einer göttlichen Eingebung im Gepäck. Man stürzte sich in das Abenteuer, steckte ein Stück Land ab und legte los, voller Vertrauen in eine höhere Macht.

Ich bin ein großer Bewunderer der Menschen des Mittelalters. Voller Pioniergeist, hochgebildet, unerschrocken und kämpferisch lebten sie ihr Leben und legten den Grundstock für das, was die feinen Herren des Zeitalters der Aufklärung in Spitzengewändern und mit gepuderten Perücken später in theoretische Formen gossen und sich dabei nicht selten lustig machten über ihre Vorfahren (genau genommen schmückte sich so mancher mit fremden Federn). Der Glaube an Geister und Übernatürliches, kurz, der Glaube an die Metaphysik, hielt diese mittelalterlichen Helden nicht davon ab, im Gegenteil, es befeuerte sie, ihre Nachkommen mit Erfindungen, Bauwerken, wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beglücken, ohne die wir heute ziemlich traurig dastünden. Auch wir blicken manchmal herablassend herunter auf diese Meister und Geister des Abenteuertums. Wir trauern zwar den großen Denkern der Aufklärung nach, besinnen uns auf sie (jedenfalls hin und wieder), aber das Mittelalter, das ist uns unbegreiflich. Bestenfalls bedauern wir die Menschen jener vergangenen Zeit, fehlte es ihnen doch an so vielem.

Bis zu einem gewissen Grad ist das sicher nachvollziehbar. Wer möchte heute schon einen Weisheitszahn mit der Reißzange gezogen bekommen, ohne Betäubung? Aber es ist kurzsichtig, das Mittelalter auf derlei Einzelheiten zu beschränken. Und es ist überheblich, dessen Zeitgenossen bestenfalls zu bemitleiden, schlimmstenfalls als dumm zu bezeichnen. Gerade weil man damals in mancherlei Hinsicht nicht verblendet war, gerade weil man offen war für das Unerklärliche, nicht abgelenkt von und gefangen in unwichtigem Alltags-Allerlei, hatte man die Zeit und Geduld, sich in eine bestimmte Wissenschaft zu vertiefen und das Beste daraus zu machen.

Nun stehen wir hier, blicken zurück und gleichzeitig nach vorn. Wir machen uns nicht mehr die Mühe, Thesen zu entwickeln und uns vor allem eine Frage zu stellen: Warum beschäftigen wir uns mit einem bestimmten Thema? Zugegeben, ein BWL Student hat für sich entschieden, er werde sich den Wirtschaftswissenschaften zuwenden, weil damit viel Geld verdient werden kann. Mancher Mensch des Mittelalters tat das vielleicht auch, aber dennoch ist da ein Unterschied. Man lernte und studierte, nicht nur des schnöden Mammons wegen, in jedem dieser Menschen wohnte der Glaube an eine höhere Macht, vor der er sich früher oder später rechtfertigen müsste. Das ist dem Menschen der Jetztzeit abhanden gekommen. Schuld daran ist die Aufklärung. So feiern wir Schiller, Goethe, Hölderlin und all die anderen. Gott ist tot, es lebe der Mensch. Und stehen am Ende vor einer Sinnlosigkeit, die uns in eine Situation manövriert hat, der wir nicht mehr entkommen können, weil unsere Wahl der zurecht Gefeierten zu kurz greift.

Aber vielleicht mussten wir diesen Punkt erreichen. Diesen Punkt, an dem wir nicht mehr wissen, ob wir Männlein oder Weiblein sind, an dem Politik und Konsum alles dominieren, wir ent-erdet und verloren vor uns hintaumeln, weil wir glauben, alles zu haben und uns beherrschen lassen von Vorstellungen und Menschen, die uns zu Empfehlsempfängern degradieren und uns den letzten Rest an Würde rauben, und wir lassen uns gerne berauben, da es so bequem ist. Daniel Engels stellt in seinem Buch “Que faire?” die Frage, was wir tun können gegen dieses Voranschreiten der Entmenschlichung.

Hier komme ich nun zu meinem Lösungsvorschlag: Wie wäre es, wenn wir eine Dialektik von Aufklärung und Mittelalter anstrebten? Wenn wir uns versuchten in einer Synthese? Stehen wir auf, erkennen wir das Mittelalter an als das, was es war: Ein Hort der Menschlichkeit. Nehmen wir die Aufklärung nicht als ein das Mittelalter hinter sich Lassen, sondern als ein Voranschreiten, das Wissen der Menschen von damals im Gepäck. Erkennen wir uns als das, was wir heute sein könnten: Eine Symbiose aus beidem, die Verschmelzung der Samen der Gläubigen und der Kopfmenschen. Steigen wir auf zu diesem Gipfel, der eine neue Frucht trägt, die Frucht der Rückbesinnung und der Theorie, des Mutes und der Gläubigkeit der Menschen des Mittelalters und der Vernunft der Menschen der Aufklärung. Es ist an der Zeit, endlich zu erkennen, dass wir nicht entwurzelt sind, keine digitalen Spielbälle anderer. Wir können uns glücklich schätzen, glücklich und dankbar, für alles, worauf wir zurückblicken dürfen. Greifen wir die Gelegenheit beim Schopfe, machen wir das Beste daraus. Intellektuelle dieser Welt, begreift endlich, dass es diese Chance nur einmal geben wird in der Menschheitsgeschichte. Verspielen wir sie nicht.

-- Johanna Blum

Von Rittern, Mägden und Knechten
von Marcel Strehlau

Von oben wo die Adler kreisen, ein Schein fällt hinunter,
Auf glänzend Rüstung eisern, die der Held ums Herze trägt,
Die Fähnlein wehen überall im Wind bunt und bunter,
Lebend zurück ist der Ritter, der den Feind so kühn schlägt.

Nicht weniger edel sein Helfersmann im feinen Zwirn,
Studierte Seite um Seite der Lexika, brachte Wissen in die Schlacht,
Rettete Leben ganz erfinderisch, nutzte statt Muskel Gehirn.
Für wen und was? Stellt sich dann die große Frage!
Es ist ein leichtes, wofür ich Bürde um Bürde trage.

Wenn das junge Kind und das liebe Weib sind wohl versorgt,
Und die Heimatfesten stehen sicher und frei in den Landen,
Für diese sie immerwährend streiten, denn ihr Leben ist nur geborgt,
Hier, wo sie eigene Familie und blühende Liebe fanden.

Nur als dunkle Zeiten sind uns diese Tage bekannt,
Doch die Werte der Epoche sind uns immer noch verwandt,
Wo Landsknechte marschieren und Frauen Polyhistor werden,
Auch dort sollen wir ab und an unseren Geiste erden.

-- Marcel Strehlau

Eine Frage für deine Selbsterkenntnis

Woran arbeitest du zur Zeit innerlich und worauf zielt das ab?

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Bis nächste Woche!
Solare Grüße
Max

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